26. Juli 2016
Aus der Wahrheit sein
Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben
- Joh 14,6
Dieses Jesus-Wort gehört zu den sieben ICH-BIN-Worten Jesu im Johannes-Evangelium. Siebenmal greift dieses Evangelium darin zurück auf die Antwort, die Mose von Gott erhielt, als er IHN am brennenden Dornbusch in der Wüste nach seinem Namen fragte. Gott sagt MOSE zu: ICH-BIN-DA beziehungsweise ICH WERDE DA SEIN als Euer RETTER UND EUER Heil.
Im Johannes-Evangelium gibt Jesus sieben Mal die feierliche Zusage, dass ER für den, der an IHN glaubt, diese Verheißung wahr macht; ER IST DA für ihn Hier und Jetzt, wie Gott es am Dornbusch dem Mose zusagt; indem er so für ihn da ist, ist ER es auch als der Weg, die Wahrheit und das Leben.
Was nun bedeutet Wahrheit im Zusammenhang dieser Selbstzusage Jesu? Diese Aussage Jesu ist zweifellos missverstanden, wenn ich darin eine dogmatische Aussage von ewig-zeitloser Gültigkeit über seine göttliche Person erkennen will. Es ist die Zusage einer rettenden Begegnung mit dem Auferstandenen da, wo wir aktuell sind und leben.
Die Wahrheit dieses Satzes erschliesst sich mir daher nur im HIER und JETZT; sie enthüllt sich nicht einem von Raum und Zeit abstrahierenden, theo-logischen Denken.
Mit den Worten ICH BIN stellt der Satz einen Zusammenhang her zwischen der Person Jesu einerseits und Weg, Wahrheit und Leben andererseits. Wie ist dieser Zusammenhang zu verstehen? Sind uns Weg, Wahrheit und Leben nur in der Begegnung mit Jesus gegeben? Sind sie gar durch die Identifikation mit seiner Person definiert? Oder haben sie auch eine von seiner Person unabhängige Bedeutung, sodass sie ihrerseits etwas über die Bedeutung seiner Person und Sendung zu sagen vermögen?
Wahres und Wahrheit
Der römische Hauptmann hörte den Todesschrei Jesu und erkannte erschüttert darin die Stimme der Wahrheit: Wahrhaftig, dieser Mensch war Gottes Sohn! - Mk 15,39. Dies kennzeichnet ihn als einen Menschen, wie Jesus ihn vor Augen hat, wenn er vor Pilatus sagt: Jeder, der aus der Wahrheit ist, hört auf meine Stimme. - Joh 18,37. Pilatus selbst stellt das Gegenbeispiel dazu dar: Ihm geht es vorrangig um seinen Machterhalt; durch seine berühmte Frage: Was ist Wahrheit? - Joh 18,38 - immunisiert er sich zynisch gegen jeden Anspruch der Wahrheit auf sein Verhalten und Tun.
Innerhalb des Machtsystems, in dem Pilatus seine Stellung einnimmt, macht seine Reaktion durchaus Sinn.
Innerhalb eines Systems kann man sich aber auch um wahre und falsche Glaubenssätze trefflich streiten: der eine besitzt mehr von den wahren, als der andere.
Wahre Sätze sind innerhalb des Systems, dem sie angehören, zeitlos wahr; man kann sie inhaltlich korrigieren, aber nicht antreffen im HIER und JETZT.
WAHRHEIT kann man nicht in zeitlosen Sätzen definieren, nicht besitzen oder behaupten: Es gibt keine zeitlos gültige oder objektiv vorgegebene Wahrheit. Es gibt die Wahrheit immer nur konkret im HIER und JETZT. Nur HIER und JETZT kann man sich ihr öffnen, in ihr sein und aus ihr leben.
Der Besitz, die Klärung, Bejahung und Behauptung wahrer Glaubenssätze gewährleistet keineswegs, dass ich aus der Wahrheit lebe - bzw. dass ich, in der Sprache des Johannes-Evangeliums, aus der Wahrheit bin.
Wer hier und jetzt in der WAHRHEIT ist, löst sich aus der Selbstentfremdung und Selbstauslieferung an die Systeme von Religion und Moral.
Wer hier und jetzt in der WAHRHEIT ist, dem lösen sich alle Fesseln an das, was es in seinem Leben gab, auch Schuld, Sünde, Versagen, erlittenes Unrecht, schweres Lebensschicksal, Abschied und Trauer; alles, was hinter ihm liegt, wird zum offenen, geebneten WEG ohne Hindernis.
Wer hier und jetzt in der WAHRHEIT ist, für den wandelt sich alles, was die Zukunft ihm bringt, schon hier und jetzt in unzerstörbares, ewiges LEBEN.
Das Bekenntnis zu Jesus als dem Wort bzw. dem Sohn Gottes begründet nicht das Sein aus der Wahrheit - es ist umgekehrt: Erkenntnis und Bekenntnis, dass Jesus "von Gott" ist, setzen voraus, dass jemand "aus der Wahrheit ist".
Darum glaubt ihr nicht an mich: weil ihr nicht aus Gott seid." (Joh)
Das Sein aus der Wahrheit bzw. aus Gott geht dem Christsein voraus. Jeder Einzelne ist darin - im offenen Raum der Welt - auf sich selbst gestellt.
Es gibt für mich keinen Zugang zur Wahrheit, ausser dem über meine eigene Wahrheit. Um in der Wahrheit zu sein, muss ich zu meiner eigenen Wahrheit finden. Die Wahrheit des anderen hilft mir dabei nicht; ich kann sie nicht für mich übernehmen.
Trotzdem bleiben diejenigen, die aus der je eigenen Wahrheit leben bzw. nach ihr suchen, nicht als Monaden voneinander isoliert. Der andere kann mich, indem er aus seiner Wahrheit lebt, zur Suche nach meiner Wahrheit ermutigen und mich darin klärend begleiten.
Die aus der Wahrheit sind, erkennen einander von Herz zu Herz, erkennen vor und jenseits aller Verbalisierung, dass sie einander in der Wahrheit begegnen - und dass diese Wahrheit sie mit allen verbindet, die im Raum der Welt - gleich, ob als Christen oder Nicht-Christen, gleich in welchem kulturellen und religiösen Umfeld - aus der Wahrheit leben.
Wenn jemand nicht von neuem geboren wird, kann er das Reich Gottes nicht sehen.
- Joh3,3
Aus seinen Predigten:
„Ihr alle aber seid Schwestern und Brüder“. Das ist die Wahrheit. Sie stellt sich ein, wo ein jeder sich selbst annimmt und einbringt nicht bloß in seiner Rolle, sondern als Mensch. Und nur, soweit wir maskenlos in dieser Wahrheit bleiben, soweit wir in Kontakt bleiben mit uns selbst, mit unserer eigenen menschlichen Wirklichkeit, mit dem unaufhellbaren Dunkel unseres Daseins, und nicht in unsere jeweilige Rolle fliehen, kommt auch in der Rolle, die wir für einander spielen, diese eine, gemeinsame Menschlichkeit zur Geltung. Nur da ist unsere Rolle ein Dienst am gemeinsamen Leben aller, kein Instrument der Überlegenheit, der Herrschaft und der Macht.
Nur so werden wir zum Meister und zum Wegweiser für andere: indem wir mit ihnen immer neu zum Anfänger werden; indem wir als Mensch unter Menschen und mit ihnen nach dem neuen, noch nie gegangenen, nächsten Schritt im Leben suchen. Nur so öffnen wir uns vertrauensvoll der Wahrheit des einen Gottes und Vaters im Himmel: indem wir als Mensch unter Menschen werden wie ein Kind. Nur so haben wir wirklich teil an der Wahrheit Christi, der allen Menschen zum Bruder geworden ist: indem auch wir Mensch unter Menschen und allen Menschen zum Bruder und zur Schwester werden.
Die eine wahre Kirche Jesu Christi – sie zeichnet sich nicht dadurch aus, dass sie Lehren und Gebote besitzt und verkündet, die niemand sonst hat und besitzt, nicht durch die nur ihr gegebenen Ämter und Würden, sondern dadurch, dass sie die Menschenfreundlichkeit Gottes weitergibt, seine Menschwerdung in der Person Jesu mit vollzieht und ein Miteinander eröffnet in dieser Welt, das keinem anderen Anspruch folgt als dem: wahrhaft Mensch zu sein, Bruder und Schwester für jeden und für alle Menschen – und, soweit nur möglich, gemeinsam mit ihnen. - JS 31A 2011